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Ich saß in der Mitte meiner Zelle, die für die nächsten Jahre mein Zuhause werden sollte und schaute emotionslos zu, wie die beiden Mönche in ihren rotbraunen Kutten die Tür zur Außenwelt zumauerten.
Lediglich die kleine Schleuse, durch die ich einmal am Tage meine Schale mit Gemüsebrei und etwas Reis, ein Stück Brot und eine Kanne mit ca. 3 Liter Wasser zum Trinken und Waschen erhalten sollte, war meine Verbindung zur Welt.
Ach so - und eine weitere Schleuse für den Eimer mit meinen Körperausscheidungen ließen sie auch offen.
Bevor sie den letzten Stein einfügten, winkten mir die Beiden und der Abt, der den Vorgang von draußen mit verfolgt hatte, noch einmal zu und verbeugten sich vor mir.
Dann war ich allein - für wie lange konnte ich in diesem Moment noch nicht absehen.
Ich – ein von Medien überfütterter Mitteleuropäer – musste erst einmal versuchen, den Weg in meine geistige Ebene zu finden und die ganze Tragweite meines Entschlusses zu erfassen.
Zeit genug hatte ich jetzt.
Mein Blick glitt durch den Raum.
Die Klosterzelle hatte ein -  für tibetanische Verhältnisse recht großes Fenster nach draußen und ließ sich sogar öffnen.
Der Blick ging in ein tiefes Tal, auf dessen Grund ein Geröllfeld - nur unterbrochen durch einen spärlichen Graswuchs - zu sehen war.
Beherrscht wurde das Panorama von einem großartigen Gebirgsmassiv, welches magisch den Blick auf sich zog.
Das Sonnenlicht hatte die Felsen vergoldet, so dass der Berg wie verzaubert auf mich wirkte.
Fernsehen mit Standbild.
In einer Ecke war mein Lager, bestehend aus einem Jute-Sack mit Reisstroh, bedeckt mit einem Schaffell und einer grob gewebten Decke aus Yak-Wolle.
Auf einem kleinen Bord stand ein Becher; ein Löffel aus Holz lag daneben.
Ach ja – alles von mir hatte ich dem Abt nicht gegeben, bevor ich mich einmauern ließ.
Auf meine Reise hatte ich eine große Packung Vitamin und Mineral-Kapseln mitgenommen, damit mein Körper die einseitige Ernährung in meiner Klosterzeit einigermaßen überstehen konnte.
Außer den genannten Gegenständen vervollständigten eine Waschschüssel und eine kleine Öllampe meinen ganzen Besitz.
Der Ausdruck: Besitz stimmt auch nicht, denn sie gehörten mir nicht.
Sie waren nur meine stummen Begleiter für lange Zeit.
Nicht zu vergessen: eine Kutte zum Wechseln und zwei Handtücher vervollständigten mein Inventar.
Dann schlug ohne Vorwarnung die Panik zu.
Man hatte mir gesagt, dass dies über kurz oder lang passieren würde, weil mein bisheriges Leben diese neue Existenz nicht realisieren konnte und sich mit aller Gewalt dagegen auflehnen würde.
Es gab nur eine Möglichkeit, dem zu begegnen.
Ich schloss die Augen und versuchte ganz ruhig meinen Weg von Anfang an bis zu diesem Augenblick noch einmal geistig zu wiederholen.
Göttingen war eine schöne, lebhafte Stadt.
Meine Dissertation über ein Leben nach dem Tod war angenommen worden und noch in gleichen Jahr habilitierte ich als Psy­chologe.
Mein Lebensweg war vorgezeichnet.
Nicht nur in den Jahren des Studiums, sondern schon in meiner Schulzeit hatte ich mich  zunehmend mit der Frage nach der Existenz Gottes befasst.
Obwohl ich in einem katholischen Elternhaus aufgewachsen war, merkte ich bald, dass das Bild Gottes mit Religion und Kirche irgendwie nicht zusammenpassten.
Er musste viel größer sein, als die Kirche es mir weis­machen wollte.
Das Bild vom lieben Gott auf der Wolke, die kleinen Engel­chen zu seinen Füßen passte nicht in meine Vorstellungen.
Ein Komunions-Bild, auf dem Jesus im langen Gewand zwei kleine Kinder über eine Brücke schützend begleitete, war dann der Auslöser.
Ich begann, meinen wirklichen Gott zu suchen.
Einen, der für mich fassbar war, der in mein logisches Weltbild passte.